Ein Jahr und seine Lieder. Nicht nur 5.000 CDs (bzw. Alben) – auch eine weitaus höhere Zahl an Singles und einzelnen Songs haben das Jahr 2007 geprägt. Neben der Frage nach den 50 wichtigsten Alben gingen wir auch den besten Stücken nach. Wichtig erschien es uns, den Zeichen der Zeit gerecht zu werden und die Auswahl nicht sklavisch von den Veröffentlichungslisten der Labels abhängig zu machen. So findet sich etwa HALs Bastard-Mix von Tocotronics »Manifest« (ursprünglich eine 7"-B-Seite) und Pantha du Prince' genialem Minimal-Techno-Track »Saturn Strobe« (ursprünglich eine instrumentale 12" auf Dial) auf Platz eins der Redaktions-Charts wieder – obwohl der Mix nie offiziell und somit nur als Bootleg erschienen ist.
Die folgenden 50 sind die unserer Ansicht nach relevanten Songs des Jahres 2007. Kompiliert und kommentiert von Max Dax, Martin Hossbach, Jan Kedves und Walter Wacht.
01 TOCOTRONIC VS. PANTHA DU PRINCE
»Manifest (DJ HAL Mix)« (Bootleg, ohne Label)
Hier wurde zusammengedacht, was zusammengehört: Pantha du Princes »Saturn Strobe« und Tocotronics humorvolles Manifest.
02 AMY WINEHOUSE
»Rehab« (Island / Universal)
»Ich geh’ nicht auf Entziehungskur! / Nö! / Nö! / Nö!« Ein hypnotischer Song geriet Winehouse zur Self Fulfilling Prophecy.
03 CHICKS ON SPEED
»Art Rules« (Chicks On Speed Records)
Eurotrash zum großen Art-Sellout – mit Kunststar Douglas Gordon am Gastmikro: »Are you a nobody? Well, die and get famous!«
04 RADIOHEAD
»15 Step« (Radiohead / XL / Beggars)
Ein Red-Bull-Espresso-Beat begleitet Thom Yorke bei der Gesangsperformance seines Lebens – das beste Stück vom neuen Album.
05 M.I.A.
»Jimmy« (XL / Beggars / Indigo)
Boney M goes Worldbeat via Darfur: der irritierendste und zugleich einleuchtendste Moment auf M.I.A.s Album »Kala«.
06 KOMMANDO SONNE-NMILCH
»Holzfäller« (Buback / Indigo)
Kompromisslosigkeit, Wut, Stolz – das Hamburger Quintett fegt uns mit seinen Gitarrenwänden aus der Bequemlichkeitszone.
07 THE GOOD, THE BAD & THE QUEEN
»Kingdom Of Doom« (Honest Jon’s / EMI)
Albarns Abrechnung mit Tony Blair: »Schon den ganzen Tag gesoffen – mein Land befindet sich im Krieg«. Kapitulation the English way.
08 RÓISÍN MURPHY
»Overpowered« (EMI)
Da torkelt der Floor vor Freude: Miss Murphy stöckelt mitten ins Bermudadreieck zwischen Acid House, Chic und fein patiniertem Electro.
09 JUSTICE
»Phantom (Parts 1 & 2)« (Ed Banger / Warner)
Symphonie in Bratz: Justice ohne Kindergequäke, dafür mit proggigem Zwei-Teile-Konzept und Streicherpause. Génial!
10 YEASAYER
»Sunrise« (We Are Free / Cargo)
Koyoten heulen, Hände klatschen, Vögel kreischen, der Himmel öffnet sich – und ein Beat für die Ewigkeit. Werden wir die Sonne sehen?
11 NELLY FURTADO
»Say It Right« (Geffen / Universal)
So melancholisch, so desinteressiert, so toll: eine Melodie wie diese, und wir verzeihen Furtado den Stadionrock von früher.
12 SMITH N HACK
»Falling Star« (Smith N Hack / Hard Wax)
Tribute to Giorgio: Die seit zehn Jahren anonym operierenden Berliner Technoaktivisten mit schmissig-radioaktivem Moroder-Sound.
13 KING CREOSOTE
»Fine Horseman« (Honest Jon’s)
Avant-Folk aus Schottland auf einer herbsauren Elektronikwiese – basierend auf einem Stück der Songwriterlegende Lal Waterson.
14 MAXÏMO PARK
»Russian Literature« (Warp / RTD)
Dringlichkeit besteht immer! Heute und jetzt gleich sofort: »I can’t live my life being nervous about tomorrow.« Der beste Track von Maxïmo Park war dieses Jahr keine Single.
15 CADENCE WEAPON
»Oliver Square« (Big Dada / Ninja Tune / RTD)
Angeravter Bleep-Hop mit messerscharfen Beats und zersägten Holzfäller-Keyboard-Sounds aus Kanada. Was geht, USA?
16 HOT CHIP
»My Piano« (!K7 / RTD)
Nicht jeder mochte die in Akkordschlachtermanier zusammengepastete »DJ-Kicks!« von Hot Chip. Ihr Exklusivtrack aber war funky.
17 ROBYN WITH KLEERUP
»With Every Heartbeat« (Konichiwa Records / Ministry of Sound / Edel)
Als hätte der bessere Superpitcher am Regler gesessen: Melancho-House von der Schwedin, die noch fest an die Liebe glaubt.
18 LCD SOUNDSYSTEM
»All My Friends (John Cale’s Version)« (DFA / EMI)
Der clevere Bastard John Cale mischte David Bowies »Heroes«, Joy Divisions »Atmosphere« und LCDs »All My Friends« zu einem Malstrom der Leidenschaft. Zum Erhängen schön!
19 NINA NASTASIA & JIM WHITE
»Our Discussion« (Fat Cat / PIAS / RTD)
White spielt das Schlagzeug freestyle, völlig überraschend akzentuiert, Nastasia antwortet mit ferner Stimme – Konversation auf Augenhöhe.
20 BORN RUFFIANS
»Hummingbird« (Warp / RTD)
Ein Licht am Horizont: Die Born Ruffians führen uns aus der Indierock-Ödnis in das gelobte Land – 2008 dann auch auf Albumlänge.
21 WU-TANG CLAN
»The Heart Gently Weeps« (Bodog Music / Edel)
Das geht, Kanada: Auf ihrer total durchgeballerten und zugleich herzerweichenden Comeback-Single kollaboriert der Wu-Tang Clan aus NYC mit George Harrisons Sohn Dahni. Meh’ Dope geht nicht!
22 RIHANNA FEAT. JAY-Z
»Umbrella« (Def Jam / Universal)
Unter Rihannas Regenschirm ist Platz für uns alle – für Jay-Z, die Redaktion und die Leser. Das liegt an der in diesem Falle unschlagbaren Kombination von Drumgroove und Eighties-Bass.
23 MICHAEL J. SHEEHY
»Song For Davey« (Glitterhouse / Indigo)
Der unterbewertetste Singer/Songwriter seiner Generation mit einer Jahrzehntballade über einen jungen Mann, der seine Zukunft versäuft.
24 STUDIO
»Out There« (Information / PIAS / RTD)
Studio lassen in »Out There« Erinnerungen an die frühen neunziger Jahre und die Haçienda in Manchester aufleben – obwohl wir uns gar nicht mehr daran erinnern können.
25 JA RULE FEAT. LIL’ WAYNE
»Uh-Ohhh« (Universal)
Der heißeste Rapper der Stunde, Lil’ Wayne, rappt über seine Hochachtung vor dem Wu-Tang Clan. Auch das geht in Amerika.
26 BRITNEY SPEARS
»Gimme More« (Sony BMG)
»It’s Britney, bitch!«, leiert eine müde Stimme durchs Telefon, dann folgen die 4:11 Minuten, die das Comeback der Gefallenen markierten.
27 STARS
»The Ghost Of Genova Heights« (Arts & Crafts / City Slang / Universal)
Das ist die ganz große Handwerkskunst: ein lupenreiner Popsong, mit Streichern und Bee-Gees-Gesängen, in der unsterblichen Tradition von ABC und Prefab Sprout.
28 MILANESE
»Barry Dub« (Planet Mu / Neuton / NTT)
Breakbeatattacken aus dem Orchestergraben: Der Engländer Milanese scheint seinen Darkdance in einem durchgefrosteten Kühlhaus geplant und aufgenommen zu haben.
29 DURAN DURAN
»The Valley« (Sony BMG)
Alle Regler auf Werksound, eine Prise herrliche Bescheuertheit und ganz viel Zynismus. Duran Duran erleben ihren dritten Frühling mit Stil.
30 EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN
»Unvollständigkeit« (Potomak / Indigo)
Wenn Blixa Bargeld bei Minute 6:54 zu schreien anfängt, gerinnt die Mayonnaise im Kühlschrank. Das ganz große Comeback der Neubauten, perfekt für Stadtautobahnfahrten.
31 ABDEL HADI HALO & THE EL GUSTO ORCHESTRA OF ALGIERS
»Win Saadi« (Honest Jon’s)
Achtminütige, exzessive Einführung in Chaabi, den ›Blues des Maghreb‹, aufgenommen von Damon Albarn in der Kasbah Tangers. Neustart der Hörgewohnheiten!
32 CARIBOU
»Melody Day« (City Slang / Universal)
Mit Sixties-Superpop ist er modernen Formeln der Romantik auf der Spur. »Melody Day« erinnert an Brian Wilson und die Beach Boys.
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33 BOXCUTTER
»Glyphic« (Planet Mu / Neuton / NTT)
Eine beeindruckende Soundkathedrale mit unendlich vielen versteckten Gängen und Geheimtüren, auf einem Fundament aus platinen Dubstep-Stelzen.
34 SONIC YOUTH
»I’m Not There« (Columbia / Sony BMG)
Für alle Beteiligten Coolness rückkoppelnde, weil strategische Räume öffnende SY-Coverversion eines verschollen geglaubten Basement Tapes von Bob Dylan aus dem Jahr 1967.
35 FEIST
»Sea Lion Woman« (Universal)
Nina Simone popularisierte dieses Traditional – Feist zaubert daraus einen kompakten, nach hinten hübsch ausartenden Indierock-Jam.
36 JENS LEKMAN
»Sipping On The Sweet Nectar« (Secretly Canadian / Indigo)
Lambada auf dem Sonnendeck des Love Boat, aber statt des gegerbten Louie Austen singt ein sonorer Schwede mit Sonnenbrand – apart!
37 UFFIE
»First Love« (Ed Banger / Discograph)
Da quäkt sie wieder: Das hotte Huhn im Ed-Banger-Stall rekapituliert zu hübsch grenzdebilem Electro die Story ihrer Teenagerliebe.
38 SALLY SHAPIRO
»Hold Me So Tight« (Diskokaine / Klein Records / RTD)
Italo-Disco-Zuckerle aus Schweden: »I know you’ll be mine / In the moonshine« – zu besten ZYX-Zeiten hätte das nicht süßer geklungen.
39 FLYING LOTUS
»Tea Leaf Dancers« (Warp / RTD)
Man denkt, die Boxen wären kaputt, oder die Ohren sagen zum Abschied leise Tinitus, dabei haben Flying Lotus nur ein Plug-In angeklickt, das dieses Monster von einem Track vibrieren lässt.
40 GRAVENHURST
»Hollow Men« (Warp / RTD)
Zarte Akustikgitarren und ekstatische, elektrische Gitarren feedbacks entladen sich in ätherisch-solidem Songwriting.
41 PUBLIC ENEMY
»Harder Than You Think« (SlamJamz / Cargo)
Yo, Chuck, das musstest du mal wieder laut sagen zu den Leuten! Dass Hiphop 2007 wieder kicken würde, wer hätte das gedacht …?
42 BEACH HOUSE
»Master Of None« (Bella Union / Coop / Universal)
Mondsüchtiger Slowmotionpop mit Beats aus der ausgeleierten Heimorgel: Beach House aus Baltimore, zum Erdtrabantenanschmachten schön.
43 AFRIKAN BOY
»One Day I Went To Lidl« (ohne Label)
»One day I went to Lidl / I was really really hungry«: Afrikan Boy aus Nigeria punktet mit dieser Grime gewordenen Ode ans Shoplifting.
44 TRACEY THORN
»King’s Cross« (Virgin / EMI)
Das Plastik wurde ersetzt durch weiches Holz: Tracey Thorn mit einer tief ergreifenden Akustikversion des Pet-Shop-Boys-Klassikers.
45 BASSEKOU KOUYATE & NGONI BA
»Bassekou« (Out Here Rec)
Malis Bassekou Kouyate int erpretiert auf seiner Ngoni-Laute traditionelle Weisen, die auf Hochzeitsfeiern immer wieder neu arrangiert werden. Zeitlos modern.
46 VINICIUS CANTUÁRIA
»Para Tom« (Naïve / Indigo)
Der Erneuerer der Bossanova singt eine federne Schmachtballade für seinen großen Helden, den verstorbenen Carlos »Tom« Jobim.
47 HAPPY MONDAYS
»Jelly Bean« (Sanctuary / RTD)
Nach zwölf Pints in Manchester: Shaun Ryder sprechsingt wie eine Muppetfigur – über den stumpfest denkbaren Backbeat. Hick!
48 GOSSIP
»Listen Up!« (Red Ink / RTD)
Beth Ditto wirft ihr bebendes Soulorgan an, dazu knackt der Punkfunk – und dann ist aber wirklich Schluss mit Kuhglocken!
49 JAH WOBBLE
»The Sweetest Feeling« (Trojan / RTD)
Jah Wobbles warmer Bass birgt die Rettung all jener Seelen, die dem tiefen Soul von Massive Attacks »Blue Lines« nachtrauern.
50 JOSÉ GONZÁLEZ
»Down The Line« (Peacefrog / RTD)
Die kubanische Nueva-Trova-Musik ist sein Elixier; dieser nur mit der Gitarre begleitete Song ein erstes, melancholisches Meisterwerk.
Die 50 wichtigsten Alben des Jahres 2007 findest du hier. In Kürze folgen auf Spex.de die Leser- und Autorencharts. Wie immer gilt auch hier: Rückmeldung ist herzlich willkommen. Welche Songs haben wir vergessen? Welche tauchen zu Unrecht in dieser Liste auf? Für was konnten wir dich interessieren? Sag es uns!